Dezember 2020

Angesichts  eines leeren Blattes, das mit Text gefüllt werden soll, ist der erste Satz immer ein Wagnis, denn er entscheidet über alles Weitere. Wer sich jedoch im  Dezember 2020 anschickt, den ersten Satz eines weiteren Kommentars zum Corona-Komplex zu schreiben, steuert geradewegs auf eine Schreibblockade zu. Nicht weil es nichts mehr zu sagen gäbe, sondern weil er oder sie fürchten muss, bei der leisesten Infragestellung der vorherrschenden Deutung unserer coronageprägten Lage unisono für wahlweise bösartig, verrückt, asozial  oder zum Fall für den Verfassungsschutz erklärt zu werden. Dabei steht beileibe nicht nur der gute Ruf der Verfasser,  auf dem Spiel, sondern vor allem das Aufeinander-Hören und das dringend benötigte vielstimmige Gespräch, das von den immer schrilleren wechselseitigen Kampfansagen zum Verstummen gebracht wird.
Also worum geht es? Es geht um Sicherheit; aber um welche?

Grundsätzlich lassen sich zwei ganz verschiedene Arten oder Kulturen menschengemachter Sicherheit denken: eine conviviale und eine technogene.

Die conviviale Sicherheit entsteht aus dem Vertrauen auf das Gegebene, auf die in der jeweiligen Lebenswelt vorgefundenen Möglichkeiten, die zu immer neuen Formen der wechselseitigen Entfaltung drängen: zu diesen Gegebenheiten gehören die Gaben der Natur ebensowohl, wie die Begabungen der Menschen; ihre Fähigkeit, sich zu verständigen, die Geschicklichkeit ihrer Hände, die Kraft ihres Körpers, ihre Erfahrungen, Erinnerungen, Phantasien und Träume, ihre Lust am Lernen und Tätigsein, und ihre Bereitschaft, es sogar unter widrigen Umständen, leidlich miteinander auszuhalten. Diese Möglichkeit, sich hinreichend sicher zu fühlen, tragen wir also am eigenen Leibe, denn wir Menschen sind an sich sehr gut geeignet, unser Leben convivial, d.h. in gedeihlichem Miteinander, zu meistern, und die Natur ist an sich in der Lage, es mit uns auszuhalten. Alles in allem beruht diese Sicherheit darauf, dass wir uns den Unwägbarkeiten des Lebens als daseinsmächtige Wesen gewachsen fühlen in dem Bewusstsein, dass wir nun einmal sterblich sind und dem Tod sein Daseinsrecht inmitten des Lebens einräumen müssen.

Die andere Sicherheit beruht darauf, dass wir gegen alle Eventualitäten des Lebens gewappnet (d.h. mit geeigneten ‚Waffen’ gerüstet) sind. Wenn wir unsere Existenz auf diese Weise sichern wollen, finden wir eine gänzlich andere Ausgangslage vor. Wir nehmen dann unsere Daseinsbedingungen als in jeder Hinsicht ungenügend und verbesserungsbedürftig wahr und unsere eigene Konstitution als beklagenswert, ja beschämend hinfällig, schwach und „antiquiert“ (Günther Anders) Nicht das Zusammenspiel der in einer Gemeinschaft vorhandenen Kräfte und Talente, sondern die Spitzenleistungen der Besten, die sich in ‚belebender’ Konkurrenz zu immer größeren Anstrengungen anfeuern, lassen ein Mehr an Sicherheit erhoffen. Sicherheit ist dann nicht im Spiel mit den Gegebenheiten zu suchen und zu finden, sondern in der Herstellung eines wissenschaftlich-technischen Milieus, das umso besser funktioniert, je vorausschauender die Experten sind. Immer neue Gefahrenquellen werden von den zuständigen Thinktanks  aufgespürt, immer neue Risiken und Sicherheitslücken entdeckt und durch Prävention unschädlich gemacht, immer höhere Ansprüche an die staatliche Daseinsvorsorge gestellt. Nicht mehr einzelne Personen und Gemeinschaften entscheiden, welches Maß an Sicherheit ihnen genügen soll, damit die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit gewahrt wird, sondern die Sicherheitsstandards, die von Expertenzirkeln etabliert und nach Maßgabe des technischen Fortschritts ständig neu justiert werden. Und da der letzte Daseinszweck all dieser Anstrengungen darauf hinausläuft, das von Sterblichkeit gezeichnete Leben, vor dem Vergehen zu bewahren - jedenfalls so lange wie möglich, dreht sich die Spirale der Aufrüstung gegen den zum Skandal erklärten Tod unaufhaltsam weiter und gefährdet schließlich sogar unser Überleben.

Beide Sicherheitskonzepte haben ihren Preis. Die conviviale Sicherheit ist ohne die Mäßigung des Sicherheitsbegehrens und ohne eine freiwillige Genügsamkeit in allen Dingen des Lebens nicht vorstellbar. Ivan Illich beschreibt diese Haltung als ‚joyful austerity’, als frohgemute Armut, als heiteren Verzicht.

Die technogene Sicherheit kann sich niemals mit einem erreichten Level zufriedengeben.

Nichts ist gut genug, solange noch etwas ‚Besseres’ - nämlich technisch herstellbare Unsterblichkeit - gedacht werden kann. Die an immer komplexeren und teureren Apparaten, Geräten, Institutionen, Verfahren  und Maßnahmen hängende Sicherheit ist immer knapp, sie kann nie für alle reichen, die nach ihr streben. Das unersättliche Bedürfnis nach Sicherheit ist der perfekte Motor der Wachstumsgesellschaft, die auf Versorgungslücken nur mit der Vermehrung der Vorräte reagieren kann, niemals mit der Mäßigung des Begehrens. Schon in den frühen siebziger Jahren sah Ivan Illich zwei Wege in die Zukunft. Den Weg der Konvivialität, des lebendigen Miteinanders in Genügsamkeit und Selbstbegrenzung und den Weg des Wachstums unter zunehmender Kontrolle und Überwachung der Gesellschaftsmitglieder. Das eine ist der Weg der Befreundung, des gegenseitigen Beistandes, der Kooperation und des Teilens (E. Fromm), das andere der Weg der Rivalität um knappe Ressourcen, bei dem es Sieger und vor allem Verlierer geben muss.

Die Pandemie offenbart in nie gekannter Deutlichkeit, dass längst die Weichen gestellt waren, für den Weg der Kontrolle und der technischen Beherrschbarkeit von Tod und Leben, der in ein unlösbares Dilemma führt: dass nämlich die Rettung des Lebens, mit dem Verlust  des lebendigen Miteinanders erkauft werden muss.

Aber hat denn, da dieser Weg nun einmal vorgezeichnet war, die Pandemie wenigstens eine „intelligente Kontrolle“ des Geschehens befördert, fragt David Cayley in einem außerordentlich nachdenklichen Artikel.  „Bedenken wir!“ schreibt er: „Die Politik war mehr von Panik getrieben als von Klugheit geleitet; die Wissenschaft wurde gleichermaßen idolisiert und ignoriert; die Reichen haben sich weitere Vorteile verschafft, während“ (...) die ohnehin Benachteiligten durchs Sieb fielen. Politische Feindseligkeiten haben sich verschärft; politische Kategorien wurden rigider und einschränkender; die Medien wurden immer einheitlicher und zunehmend selbstzensierend; die Kranken und Sterbenden blieben ungetröstet, und die Menschen fürchten einander mehr und mehr.“1   Das herzzerreißend einsame, jeglichen Beistandes beraubte Sterben auf den Intensivstationen, das ‚Leben’ in völliger Absonderung in den Pflegeheimen und der Kummer der Angehörigen, denen jeder Zugang zu ihren Nächsten verwehrt wird, beweist unwiderleglich, dass wir auf dem falschen Weg sind, wenn wir die Lebendigkeit der Bekämpfung des Todes opfern. Der Preis ist zu hoch, er kostet unsere Humanitas.

Das technogene Milieu strahlt Kälte aus, aber es tut das auf politisch korrekte Weise. Wer bezweifelt, dass der Rettung des Lebens Vorrang vor allen anderen Belangen des Daseins gebührt, ist zynisch.

Politische Korrektheit ist brandgefährlich, aber untadelig.

Sie ist die ethische Ideologie der technokratischen Gesellschaft. Sie behauptet sich, indem sie alles Fühlen, Tun und Denken, das sich ihrer Logik entzieht, kategorisch ins Unrecht setzt. Unmerklich wird unter ihrem Regiment alles Gute durch das ersetzt, was geboten ist, die Fürsorge füreinander durch die Zuteilung knapper Mittel, die Barmherzigkeit durch moralische Pflichtübung und die Hoffnung (wider alle Vernunft) durch „kluges Erwartungsmanagement“ (ZDF spezial 13. Dez. 2020) Aber Barmherzigkeit und Nächstenliebe sind niemals politisch korrekt, sie sind anstößig. Der Samariter, der dem ausgeplünderten Juden am Wegesrand, dem Erzfeind, die Wunden verband, verhielt sich nach den geltenden Normen seiner Gemeinschaft völlig unkorrekt. Er ließ sich leiten vom erbarmungswürdigen Anblick des Elenden und machte sich damit sogar des Verrats an seiner eigenen Gemeinschaft schuldig.

Das Urbild der Konvivialität ist der gastliche Tisch, um den sich die Tischgenossen zum gemeinsamen Mahl und zur freien Unterredung versammeln. Auf dem Tisch liegt ein Laib Brot, der gebrochen und, von Hand zu Hand gereicht, miteinander geteilt wird, ein Krug Wein, der ausgeschenkt wird, und eine Kerze, die für den oder diejenige steht, die vielleicht an die Tür klopfen und Einlass begehren werden. Denn eine Tischgesellschaft darf nie geschlossen sein. Die Tischgemeinschaft lebt davon, dass die Menschen leibhaftig beieinander sind, dass sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen und sich vertrauen, gerade weil sie einander das offene, ungeschützte Antlitz darbieten. Unverzichtbar ist auch das dargereichte Brot, das die Vorhandenheit von Brot und Nachbarn, als tröstliche Gewissheit spüren lässt.

Wenn aber prinzipiell jeder jeden gefährdet und alle von allen gefährdet werden, dann ist eben Vertrauen keine Tugend, sondern Misstrauen geboten.

Das ungeschützte Antlitz, einst Inbegriff der Wehrlosigkeit, wird zur Quelle der Bedrohung.

Jede Berührung kann schweren Schaden anrichten, denn der Virus lauert überall. Solidarisch und hilfsbereit sind wir, wenn wir uns voneinander fernhalten, denn voneinander haben wir nichts mehr zu hoffen. Wir ‚heben unsere Augen auf zu den Pharma-Konzernen, von welchen uns Hilfe kommt’.
Wir können das technogene Milieu nicht ungeschehen machen und seiner Logik nicht entkommen. Dagegen anzurennen ist so aussichtslos, wie den Mond anzubellen. Wir können nur ‚inmitten der Hölle suchen und zu finden wissen, was Nicht-Hölle ist und ihm Bestand und Raum geben’ (Italo Calvino). Wir können inmitten der Kälte kleine Wärmeströme entstehen lassen. Wir können einander dazu verhelfen, uns fremd zu fühlen in der komfortablen Kälte. Wir können der Versuchung widerstehen, das technogene Milieu ganz gemütlich zu finden und die Sehnsucht nach lebendigem Zusammensein ruhig zu stellen. Und sei es mit Maske und Abstand.

Was Nicht-Hölle inmitten der Hölle sein kann, will ich an einer Szene verdeutlichen, die mehr sagt als jedes Argument: Wir waren sehr erschüttert von dem Anruf am Tag vor Heiligabend, in dem uns mitgeteilt wurde, dass der Gottesdienst in der wunderbaren Oppenheimer Katharinenkirche, zu dem wir uns schon mit ziemlichem Unbehagen ‚angemeldet‘ hatten, abgesagt wurde. Dass man sich zu einem Gottesdienst anmelden muss ist ja bereits ein Unding, dass er aber abgesagt werden kann, ist seinem Wesen gänzlich fremd. Aber dann fanden wir im Briefkasten eine Botschaft unseres Bürgermeisters, dass um 17 Uhr in Friesenheim ein Gottesdienst stattfinden sollte, auf dem Platz vor dem Gemeindezentrum. Kurz vor Beginn begann es dann zu stürmen und zu regnen, aber das hielt uns wie auch um die 50 andere Friesenheimer nicht davon ab, den Weihnachtsgottesdienst feiern zu wollen. Es war an alle pandemischen Regularien gedacht. Irgendwo auf der angrenzenden Wiese  stand sogar ein Tischchen mit einer Flasche mit Desinfektionsmittel, so dass wir alle unsere Hände in Unschuld waschen konnten. Und dann gab es eine nach allen Regeln der Gottesdienstkunst desaströse Zeremonie. Nichts klappte. Die aufgestellten Sitzbänke waren klitschnass und konnten auch mit den massenhaft eingesetzten Küchentüchern nicht mehr trockengelegt werden. Der Pfarrer tauchte mit wehendem Talar zu spät auf, weil in seinem Auto die Scheiben so beschlagen waren, dass er sich nicht auf die Straße trauen konnte. Er eilte von Dorf zu Dorf, und sein Friesenheimer Gottesdienst war schon der sechste. Unablässig ging das Licht aus, so dass er seinen Text aus den Augen verlor. Der ‚Organist’, der auf einem altertümlichen Keyboard die altbekannten Weihnachtslieder intonieren wollte, war ein recht unmusikalischer, aber sehr liebenswert bemühter Mensch, dem das Gefühl für guten Rhythmus abging. Und dann hielt der Pfarrer eine Predigt, die  sicher keine Glanzleistung wohlgesetzter Worte war, aber dennoch ein ganz neues und sogar glänzendes Licht auf das Ereignis warf: Er sprach durchaus mit Respekt von dem Bemühen der Menschen, ein perfektes Weihnachten zu gestalten, bei dem sogar die Überraschungen minutiös geplant und quasi rituell abgearbeitet werden.Und dann kam er darauf zu sprechen, wie  die Pandemie all die schönen Träume von einem perfekten Familienfest zunichte gemacht habe. Und schließlich richtete er unseren Blick nach Bethlehem in den Stall, in dem alles andere als eine perfekte Weihnacht stattgefunden hatte, vielmehr ein großes Durcheinander herrschte, das niemand verstand - am allerwenigsten wahrscheinlich der arme Joseph. Und auf einmal hatten wir das Gefühl an dem weihnachtlichsten aller je erlebten Gottesdienste beteiligt gewesen zu sein.
Sehen Sie, das meine ich mit dem Wärmestrom inmitten der technokratischen Kälte.

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1 David Cayley: Pandemic Revelation, in: International Journal of Illich Studies, Vol 7 No1 (2020),S. 59 f.

 

 

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Donnerstag, 3. Dezember 2020