“When I listen unconditionally, respectfully, courageously with the readiness to take in the other as a radical surprise, I do something else. I bow, bend over towards the total otherness of someone. But I renounce searching for bridges between the other and me, recognizing that a gulf separates us. Leaning into this chasm makes me aware of the depth of my loneliness, and able to bear it in the light of the substantial likeness between the other and myself. All that reaches me is the other in his word, which I accept on faith. But, by the strength of this word I now can trust myself to walk on the surface, without being engulfed by institutional power.” (Ivan Illich, The Educational enterprise in the Light of the Gospel, Chicago, Nov. 13th 1988)
„Verzieht euch, verschwindet“, zische ich mit aufkommender Wut aus zusammengepressten Lippen. „Boa, haut ab, ihr nervt.“ Vielleicht sage ich es auch gar nicht, sondern denke es mir nur. Es wäre auch einerlei, denn mein Adressat hätte die Worte nicht verstanden und sich noch weniger gekümmert. Es ist ein Schwarm kleiner weißer Fliegen. Ich liege an dem Fluss Lahn im Gras, neben mir Gökhan. Wir haben gepicknickt und ein paar Minuten satt und zufrieden in der Sonne gedöst.
Gerade hatte ich mich ins Sitzen aufgerichtet. Das trübe grüne Wasser glitzert geheimnisvoll vor uns. Darauf sonnengemalte Muster, die sogleich verschwinden und in neue zerfließen, wenn ich meine, eines klar zu erkennen.
Aber jetzt sind sie da, diese Fliegen. Und sie stören unsere Ruhe. Der Himmel, bis gerade noch eine einzige weite blaukühle Leinwand, ist jetzt zerstochen von einer unzählbaren Masse wildgewordener Punkte, die immer näher kommen. Die Fliegen scheinen über uns zu kreisen wie kleine Raubvögel, die nur auf den richtigen Moment warten, um sich auf uns zu stürzen, sich in den Weingläsern zu ertränken, uns in die Ohren zu brummen und uns in Augen und Nase zu fliegen. Der Moment, der gerade noch zum zeitlosen Verweilen einlud, ist jetzt voll bedrohlicher Spannung und Erwartung, dass er schnell vorübergeht.
Ich schaue nach links und nach rechts: Klar, über den anderen Leuten, die sich neben uns an der Lahn niedergelassen haben, ist keine einzige Fliege zu sehen. Nur uns ist es nicht vergönnt, hier friedlich und gelassen zu sitzen. Ich lasse mich wieder nach hinten fallen. Ausgestreckt auf dem Boden sind sie wenigstens nicht ganz so nah. Lange lässt es sich hier aber nicht mehr aushalten, denke ich. Aber gut, wir haben bereits gegessen und getrunken, dann gehen wir eben wieder. Aber es ist gerade noch so schön …
Während ich so liege, mit den Gedanken schon im Aufbruch, die Augen misstrauisch auf dem Fliegenschwarm über mir, verändert sich etwas. Ich weiß nicht, woher diese Veränderung kommt. Die Fliegen, die sich gerade noch auf mich stürzen wollten, fangen plötzlich an zu tanzen. Da ist dieses dichte Gewusel, diese Wolke, immer in Bewegung, sich ausdehnend, wieder zusammenziehend. Und da sind diese einzelnen Wesen, in willkürlicher Improvisation und zugleich in verabredeter Choreografie.
Immer gibt es einige, die für einen kurzen Moment aus der Wolke herausschießen und alleine klar und weiß vor dem weiten Blau des Himmels stehen. Wie Funken, die aus einem Feuer springen, um im tiefen Schwarz der Nacht zu verglühen. In der Wolke selbst fliegen sie so schnell, dass sie nur als dichtes Gewirr verschwommener Linien auszumachen sind. Es sind dieselben Linien, die ich als Kind mit dem Feuerspeier hingebungsvoll in die Silvesternacht malte. Immer nur da zu sehen, wo sie schon gar nicht mehr sind. Im Fachjargon heißt das Persistenz des Sehens und lässt sich mit stroboskopischer Bewegung, ikonischem Gedächtnis und der Frequenz von 4 bis 5 Hertz erklären. In diesem Moment aber ist das Feuerwerk, das da am hellen Tag für uns leuchtet, keine Sinnestäuschung. Sondern es ist da. Wir sehe es. Die Fliegen belästigen uns nicht, sondern sie bringen uns eine Darbietung, ein Geschenk.
Diese kleine Begebenheit hatte ich aufgeschrieben für Reimer und anlässlich seines 85. Geburtstags.. Denn den gemeinsamen Gesprächen, Reisen, Lektüren, und vielem mehr verdanke ich auch, dass aus den lästigen Fliegelchen ein Schaustellergruppe werden konnte. Gleichzeitig ist diese Erfahrung für mich sinnbildlich für die Arbeit der Stiftung Convivial. Ivan Illich ermutigt uns dazu, unsere Gewissheiten zu überprüfen, Ohnmacht zuzulassen und offen zu sein für die Überraschung, insbesondere da, wo sie Möglichkeiten eröffnet, sich mit Anderen und Anderem zu befreunden.
Gießen, 31.03.2025.