Silja Samerski
Silja Samerski

Dokumentation

Silja Samerski

Programmierte Entscheidungen

Über die Verkehrung einer Freiheit
Mein Thema ist die »Programmierte Entscheidung – die Verkehrung einer Freiheit«. Ich möchte von einem Paradox sprechen, das genauso widersprüchlich und lähmend ist wie das »Unding Dauerkrise«: Von dem Paradox der »programmierten Entscheidung«. Also von der gleichzeitigen Förderung oder gar Erzwingung und Abschaffung des Entscheidens. Es muss dauernd entschieden werden, ohne dass jemand wirklich entscheiden kann. Tatsächlich eine Krise ohne krisis, ohne Entscheidung.

Eure Einladung, hier auf dem Frankfurter Treffen über die Krise der Entscheidung zu sprechen, hat mich riesig gefreut. Mit Freuden habe ich sie angenommen! Ich musste sozusagen keine Entscheidung treffen. Hier her zu kommen und auch noch etwas beitragen zu können, das war eine großartige Lockursache. Da kam sofort, aus vollem Herzen, mein »Ja«.

Mein Thema ist die »Programmierte Entscheidung – die Verkehrung einer Freiheit«. Ich möchte von einem Paradox sprechen, das genauso widersprüchlich und lähmend ist wie das »Unding Dauerkrise«: Von dem Paradox der »programmierten Entscheidung«. Also von der gleichzeitigen Förderung oder gar Erzwingung und Abschaffung des Entscheidens. Es muss dauernd entschieden werden, ohne dass jemand wirklich entscheiden kann. Tatsächlich eine Krise ohne krisis, ohne Entscheidung. Anhand von zwei Beispielen möchte erzählen, wie Entscheidungen heute programmiert, also gleichzeitig erzwungen und abgeschafft werden. Dann will ich mit Ivans Hilfe etwas zur Geschichte des »Sollens« und des guten Entscheidungsvermögens sagen. Schließlich will ich skizzieren, wie die heutigen Entscheidungsaufforderungen eine gute Entscheidung unmöglich machen.

Entscheidungshilfen – die Programmierung des Entscheidens

Dominik ist Anfang zwanzig. Seit vier Jahren sitzt er in einem Schweizer Gefängnis in präventiver Verwahrung, weil er als Sicherheitsrisiko gilt. Zwei Brandstiftungen mit großem Sachschaden und ein Drohanruf in einem Kaufhaus haben ihn ins Gefängnis gebracht. Als er seine Strafe abgesessen hatte, ordneten die Behörden ein psychiatrisches Gutachten an, um sein Rückfallrisiko einschätzen zu lassen. Zum Einsatz kam ein neues Prognoseinstrument: Das Softwareprogramm »FOTRES«. Ein Schweizer Psychiater hat es entwickelt mit dem Ziel, die Sicherheit zu erhöhen. Er vertreibt das Programm nun erfolgreich mit seinem Unternehmen. Um das Risiko kalkulieren zu lassen, dass Dominik wieder Straftaten begeht, und vielleicht Menschen dabei zu Schaden kommen, hat ein Forensiker das Programm FOTRES mit Dominiks Daten gefüttert. Es ist ein multipe choice-Programm und stellt Fragen wie: War der Betroffene schon in der Grundschule auffällig? Ist er bei seinen biologischen Eltern aufgewachsen? Wie alt war er, als er sein erstes Delikt beging? War er während der Gefangenschaft auffällig? Anhand dieser Daten hat FOTRES schließlich ein Risiko kalkuliert. Im Falle von Dominik, dessen Leben nicht einfach war, ist diese hoch. Daraufhin wurde er in Sicherheitsverwahrung genommen. Unbegrenzt. Er weiß nicht, wann er wieder aus dem Gefängnis kommen wird. Ob überhaupt. Das Programm hat das Ziel, die Einschätzung von Psychiatern zu objektivieren. Nicht mehr ein Mensch mit seinen Vorurteilen und Unzulänglichkeiten soll über einen anderen Menschen urteilen und sein Schicksal bestimmen, sondern ein Algorithmus. Von Dominik wird ein Datendoppel erstellt, und dieses Datendoppel wird mit den Datenmengen vieler anderer Datendoppel verrechnet. Er wird praktisch mit tausenden anderen Delinquenten in einen Topf geworfen, um dann auf der Grundlage dieser Datenmengen eine Risikozahl zu berechnen. Derjenige, der mit Hilfe des Programms die Entscheidung über Dominik gefällt hat, muss ihn dafür nicht zu Gesicht bekommen haben. Er reicht, wenn er im Besitz der Daten ist, die er ins Programm einspeist.

FOTRES ist keine Ausnahme. Auch im Krankenhaus, bei Banken, bei der polizeilichen Kriminalitätsabwehr werden solche Entscheidungsprogramme verwendet. Zahlreiche Experten-Entscheidungen basieren heute auf technisierten Entscheidungsverfahren und Entscheidungsprogrammen. Doch nicht nur Experten sollen heute dazu befähigt werden, bessere Entscheidungen zu treffen, sondern auch Laien wie »Du« und »ich«: Vor einem guten Jahr hat mir meine Krankenkasse, die TK, eine Einladung geschickt zu einer Kursreihe: »Kompetent als Patient«. Ich soll lernen, so das Angebot, »informierte Entscheidungen« im Gesundheitssystem zu treffen. In verschiedenen Lektionen kann ich nun lernen, »Gesundheitsinformationen zu finden«, »Gesundheitsinformationen zu bewerten«, »Arztgespräche erfolgreich zu führen« und einiges mehr. »Kompetente Patienten« sind schließlich diejenigen, die gelernt haben, von sich selbst ein Datendoppel zu erstellen, die Gesundheitsrisiken dieses Datendoppels zu eruieren und diese zu managen. Kompetent sind also diejenigen, die aus sich selbst genau das machen, was FOTRES aus Dominik macht: Ein Datendoppel. Dadurch soll ich dazu befähigt werden, wie es im Vorwort der Broschüre »Kompetent als Patient« heißt, als »informierte Verbraucherin das Gesundheitswesen kompetent nutzen zu können«. Ein kurzer Blick hinter die Kulissen zeigt, in wessen Dienst diese Kompetenz steht: Der Sachverständigenrat für die Begutachtung der Entwicklung des Gesundheitswesens für die Entwicklung im Gesundheitswesen beschreibt in seinem Gutachten von 2012, wozu kompetente Patienten dienen: Neben einem hinreichenden personellen Angebotspotenzial bildet die Kompetenz der Nutzer von Gesundheitsleistungen eine weitere bedeutsame Voraussetzung für einen zielführenden Wettbewerb. ... Investitionen in die Verbesserung des Gesundheitswissens und der Nutzerkompetenz dürften einen direkten positiven Effekt auf den Gesundheitsstatus, aber auch auf das Nutzungsverhalten haben. Sie sollen helfen, übermäßige Inanspruchnahme oder Fehlnutzungen des Versorgungssystems zu reduzieren und damit eine insgesamt kosteneffektivere Versorgung unterstützen. Der Rat empfiehlt daher, künftig weiter in den Ausbau der Patienten-/Nutzerinformation und -beratung zu investieren.«

Der Patient wird zur ökonomischen Stellschraube, und soll lernen, kostenminimierende und nutzenmaximierende Konsumentscheidungen im Gesundheitssystem zu fällen.

Sowohl das risk-assessment-Programm FOTRES als auch die Patientenschulung programmieren Entscheidungen: Im Falle von FOTRES übernimmt ein Algorithmus die Entscheidung über das Schicksal eines Menschen; im Falle der Patientenschulung werden Patienten dazu erzogen, sich als »Entscheider« wahrzunehmen, die ihre »Entscheidungskompetenz« durch Informationsinput und Risikoabwägungen optimieren können. Auch hier wird »Entscheidung« zu einem Produkt, zum Resultat standardisierter Verfahren. In beiden Fällen ist die Tätigkeit des Entscheidens auf Regeln und die Abwägung von Werten reduziert worden. Um Ivan zu zitieren: Ich »gehe der Frage nach«, sagt er in einer seiner Vorlesungen, »wie es möglich wurde, die Würde der freien Entscheidung auf berechnende Regeltreue zu reduzieren«.

Zunächst: 4 CAVEATS – viermal »Achtung« oder »Vorsicht«:

Heute von der Verkehrung der Entscheidung zu sprechen ist schwierig, und zwar aus 4 Gründen:

  1. Erstens gilt die eigene Entscheidung heute als Inbegriff von Selbstbestimmung und Autonomie. Wenn ich auf Vorträgen die staatliche und professionelle Förderung von „Selbstbestimmung“ in Frage stelle, dann sind die meisten Menschen empört. Sie haben den Eindruck, ich möchte ihnen ihre Freiheit nehmen. Sollen sie etwa nicht mehr selbst entscheiden dürfen? Sollen sie sich etwa wieder vom Arzt vorschreiben lassen, was sie tun sollen? Eine Versammlung feministischer Ärztinnen habe ich einmal regelrecht in Rage versetzt: War es doch das Kennzeichen ihrer Fortschrittlichkeit und Frauenfreundlichkeit, dass sie ihre Patientinnen zu informierten Entscheidungen befähigen wollten. Deshalb möchte ich klarstellen: Ich bin natürlich keineswegs für eine neue entmündigende Expertenherrschaft oder für die Einschränkung von Freiheiten. Aber ich stelle in Frage, ob die Entscheidungen, zu denen wir heute in der Arztpraxis, am Computer oder an der Universität aufgerufen sind, irgendetwas mit freiem Willen und Entscheidungsfreiheit zu tun haben.
  2. Ich will nicht behaupten, dass die Förderung selbstbestimmter Entscheidungen lediglich Rhetorik ist – das ist ein zweites Missverständnis. Ich will keinesfalls sagen, dass wir nur das entscheiden können, was eh schon entschieden ist. Als Hannah zwei Monate zu früh auf die Welt wollte, lag ich mit Wehen im Kreissaal, und der Arzt kam herein mit den Worten: Sie haben sich ja für einen Kaiserschnitt entschieden. Hatte ich natürlich nicht! Als ich verneinte, machte er mir deutlich, dass der Kaiserschnitt –wie sagt man heute – alternativlos ist. So etwas kommt natürlich zuhauf vor: dass auch der Ausgang der Entscheidung vorprogrammiert ist. Aber mir geht es auch, oder vor allem um die Programmierung von Entscheidungen, die nicht vorherbestimmt sind.
  3. Ein drittes, sehr großes Hindernis ist die Sprache. Mit welchen Begriffen und auf welche Weise lässt sich über die Verkehrung des Entscheidens sprechen? Unsere Sprache hat keine Begriffe dafür, um zu unterscheiden zwischen Beths mutigem Entschluss, bis zu seinem Tode für Lee zu Hause zu sorgen, und den Werteabwägungen eines bioethischen Expertenkomitees über einen Demenzfall. Beides heißt heute »Entscheidung«, und hat doch nichts miteinander zu tun. Ivan hat bereits in »Selbstbegrenzung« auf die Korruption der Sprache aufmerksam gemacht, die zunehmend den Unterschied zwischen Eigentätigkeit und industriell produzierten Waren einebnet. »Die Sprachen der Industrienationen setzen die Ergebnisse schöpferischer Arbeit und menschlicher Bemühungen mit industriellen outputs gleich.« Der Verlust starker Verben und die Zunahme an Substantivierungen spiegeln diesen Verlust des Selbst-Tätig-Seins wider. »Nicht nur das menschliche Tun, sondern auch das menschliche Wollen wird mittels eines Nomens ausgedrückt. »Wohnen« ist somit nicht vornehmlich eine Tätigkeit, sondern vielmehr eine Ware. Die Menschen legen sich Wissen und Mobilität, ja sogar Sensibilität und Gesundheit zu. Sie haben nicht nur Arbeit und Spaß, sondern sogar Sex.«
    Johannes Beck hat eine hilfreiche Formulierung eingeführt, die eine Unterscheidung ermöglicht, die zwar die Englische, aber nicht die deutsche Sprache zulässt: Er unterschied »entscheiden« und »Entscheidung-machen« und sprach von den »Entscheidungs-machern« als einem neuen Menschentypus. Johannes karikierte den neuen Menschentypus des Entscheidungsmachers als »Jäger und Sammler«, - allerdings ein sesshafter. Er sammelt Informationen wo er sie finden kann; und jagt hinter Entscheidungen her, die ihm immer voraus «
  4. Ein viertes Hindernis ist, dass wir alle, unvermeidlich, in unserer heutigen Gesellschaft als solche Entscheidungsmacher unterwegs sind. Die technogene Welt, in der wir heute leben, ist so zugeschnitten, dass wir ständig Entscheidungen »machen« müssen – vom Schuhkauf bis hin zur Wahl der Bahnfahrkarte am Automaten. Der Inbegriff dieses Systems an Entscheidungszwängen, das uns zu Entscheidungsmachern macht, ist der Computer: Vorgefertigte Optionen, aus denen wir auswählen sollen. Algorithmen, die uns kalkulierte Ergebnisse präsentieren, wenn wir unsere Präferenzen eingeben und etwas anklicken. Für viele Menschen, von iPhone-Liebhabern zu Facebook-Fans, ist dieses Entscheidungs-Machen zur zweiten Natur geworden. Wie lässt sich in einer Welt, die täglich das Entscheidungs-machen verlangt, von der corruptio des Entscheidens sprechen?

Ivan hat wenig über den Begriff der »Entscheidung« gesprochen, implizit war das Thema jedoch immer präsent. Ich habe mich für heute seiner Vorlesungsnotizen über das »Sollen« bedient, die er 1997 In Bremen angefertigt hat. Sein großes Anliegen war es, seinen Zuhörern plausibel zu machen, dass in der westlichen Tradition das »Sollen« lange Zeit nichts mit Norm, Regel und Gesetzt zu tun hatte. Daher vermied er von »Ethik« zu sprechen, da heute Ethik immer mit Werten und Normen in Verbindung gebracht wird. Ich »gehe der Frage nach«, so schrieb er einleitend in seinen Notizen, , »wie es möglich wurde, die Würde der freien Entscheidung auf berechnende Regeltreue zu reduzieren«. Ich erinnere noch gut, wie mir an einem dieser Nachmittage regelrecht ein Licht aufgegangen ist. Ivan sprach über verschiedene Beweggründe des Handelns, verschiedene Formen des Sollens. Diejenige, die er aus dem Dunkel der Vergangenheit wieder ans Licht der Gegenwart holen wolle, beschrieb er folgendermaßen: »Unser Thema ist der Soll-Satz, genauer: eine Beziehung, die als existent wahrgenommen wird und für deren Verwirklichung sich dann jemand, der handelt, einsetzt.«.

Was heißt nun das? Er versuchte dasjenige Sollen einzukreisen, um das es ihm ging, in dem er andere Formen des Sollens ausschloss. Das tat er durch sehr alltägliche Beispiele. Kassandras Söhne, damals noch Teenager, waren morgens zur Schule gegangen – weil in Deutschland Schulpflicht herrscht. Die Schule institutionalisiert den abstrakten Wert »Bildung«, weshalb Vilù jeden morgen dorthin gezwungen werden muss. Um solche abstrakten institutionalisierten Werte ging es Ivan nicht. Am Vormittag hatten wir mit einer Freundin, die arbeitslos geworden war, über ihre Möglichkeiten gesprochen, Arbeitslosengeld und Wohngeld in Anspruch zu nehmen. Auch um diese Form des Sollens, um Rechte und Ansprüche, ging es Ivan nicht. Auf dem Weg zur Uni, im Auto, so berichtete Ivan weiter, mussten sie an mehreren roten Ampeln anhalten und warten, bis es grün wurde. Auch dieses »Sollen«, die Unterwerfung unter (Verkehrs-)regeln, war nicht sein Thema. Dann kam er auf Lee zu sprechen, Lee Hoinacki. Lee hatte morgens anderthalb Stunden lang einen riesigen Berg dreckiges Geschirr vom Vorabend abgespült. Das hatte er nicht getan, weil die Hausherrin Barbara ihn dazu verdonnert oder es von ihm erwartet hatte, oder weil es sonst wie seine Pflicht war. Er hatte schon genug im Haushalt getan. Nein, Lee hatte das Geschirr abgespült, damit Barbara vor der Vorlesung noch ein kleines Mittagessen für Ivan kochen konnte, und damit Matthias und ich ein bisschen mehr Zeit für unsere Doktorarbeiten hatten. Er hat es, aus freien Stücken, uns zuliebe getan. Ivan, Barbara, Silja und Matthias waren seine »Lockursache«, sein telos fürs Spülen gewesen. Für mich war das eine große Einsicht. Wahrscheinlich ist das nicht mal so eben nachvollziehbar, und sicher hat dazu auch Lee beigetragen. Weil Lee gelebt hat, wovon Ivan zu sprechen versuchte.Wie kam Lee dazu, so zu handeln, sich dafür zu entscheiden, Barbara, Ivan, Matthias und mir zuliebe die Last des Spülens auf sich zu nehmen? Oder wie kam, viele Jahre später, seine Tochter Beth dazu, ihrem Vater zuliebe die Last auf sich zu nehmen, ihn zu Hause zu umsorgen, bis er so sterben konnte, wie er gelebt hatte?

»Actio humana, as distinct from the actio hominis (qui habet aures…) requires judgement evaluated by common sense, and desire rooted in the flesh. It requires senses that are at home, and an autoception that results from experience«

Eine actio humana, also nicht nur Handeln von Menschen, sondern menschliches Handeln, so Ivan frei übersetzt, braucht das Urteilsvermögen des Common sense und ein Wollen, das im Fleisch wurzelt. Es braucht Sinne, die »heimisch« sind und eine Selbstwahrnehmung, die auf Erfahrung beruht.

Was Ivan damit meinte, wird in einer seiner Vorlesungen über die phronesis deutlich. Phronesis, das ist der griechische Begriff für Klugheit, Vernunft, gutes Urteilsvermögen. Phronesis bezeichnet das gute, tugendhafte Entscheidungsvermögen, wenn es nicht um logisches Schließen oder gerissene Schläue geht. Dieses Entscheidungsvermögen, so sagt Ivan, ist nicht (rein) kognitiv, sondern braucht Pathos. Oder anders gesagt: Die bewegten Eingeweide, die Splanchna sind genauso wichtig wie der Kopf. Es ist ein Entscheidungsvermögen, das in der zweiten Natur wurzelt, in der leiblichen »Gestimmtheit«. Daher spricht Ivan im Zusammenhang mit der phronesis ausfühlich über pathos. Synonym zu pathos könnte »Inbrunst, Wucht, Schneid, Emphase, Eindringlichkeit stehen, Energie und Stimmaufwand, aber ebensogut Leid, Seelenschmerz, Pein, Plage stehen. Und in beiden Sinnen spricht pathos von einem Zustand.« Ich zitiere Ivan weiter:

»Denn pathos ist zutiefst ein humoraler Begriff (Samar), pathos ist hinreissend, schwillt an, flutet, bedroht einen zu überschwemmen. Pathos bezieht sich auf einen Zustand, der im Gegensatz steht zu trocken, morsch, gesetzt, unbeugsam ... Die Grosse Tradition der peripathetischen Philosophie spricht aus der Überzeugung, dass magnanimitas, d.h. Grossmut, Grosszügigkeit eine Bedingung für Handeln ist, aber besonnene Grossherzigkeit. Man könnte die Geschichte der Philosophie so lesen, als ob wie ein roter Faden das Umgehen mit dem Grossmut sie durchzieht. Das Umgehen mit dem Vertrauen auf die inneren Quellen, das Hand in Hand geht mit der Sorge, dass ungezügeltes pathos zerstörerisch und vernichtend ist.«

Die Regeln, Normen und Gesetze betrafen damals nicht direkt das Sollen, sondern die Mäßigung der Leidenschaft. Denn »das Einüben von Gewohnheit im Masshalten« galt als »die Bedingung für ein sprudelndes, immer überraschendes Handeln«.

Doch im Unterschied zu Michel Foucault ging es Ivan nicht um »die Sorge um sich selbst«, um eine Ethik des eigenen Lebens. Ihm ging es um die Freiheit, eine Beziehung zu einem anderen Menschen zu schaffen, oder, in seinen Worten: um eine »Beziehung, die als existent wahrgenommen wird und für deren Verwirklichung sich dann jemand, der handelt, einsetzt.« Diese Beziehung, sagt er ausdrücklich im Interview mit David Cayley, existiert, »weil wir uns so entschieden haben«. Aber diese Entscheidung, die Bezüglichkeit zwischen mir und Dir zu schaffen, wurzelt in einer inneren Bewegung: »Es kann nicht geschehen, wenn mich nicht etwas durch den anderen, vom Anderen, in seiner leibhaftigen Gegenwart berührt«.

Das »Soll« der »Entscheidungsgesellschaft«:
 

Die programmierten Entscheidungen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben, zwingen zu einer völlig anderen Haltung als zu derjenigen, mit der Lee abgespült oder Beth ihren Vater Zuhause umsorgt hat. Mir scheint es nicht übertrieben, von einer Korrumpierung, ja Verkehrung der freien Entscheidung zu sprechen. Im Lichte von Ivans Gedanken über pathos, phronesis und die Bezüglichkeit kann ich abschließend deutlich machen, auf welchem absurden, ja a-humanen »Soll« die programmierten Entscheidungen beruhen:

  • Ivan spricht von einem »sprudelnden, immer überraschenden Handeln«; auch Hannah Arendt macht deutlich, dass wirkliches Handeln einer geborenen und damit einzigartigen und unberechenbaren Person entspringt. Programmierte Entscheidungen fordern jedoch die Wahl zwischen vorgefertigten Optionen. Verwahren oder Freilassen, Mammographie oder Tastuntersuchung, Chemotherapie oder Bestrahlung. Die möglichen Folgen jeder dieser Optionen sind statistisch vorauskalkuliert. Überraschungen und Wagnisse gibt es nicht. Entscheiden heißt heute, zwischen programmierten Optionen zu wählen.
  • Die programmierte Entscheidung verlangt immer eine Abwägung von Werten, seien diese Werte Risikozahlen oder sogenannte „ethische Werte“. Das bedeutet, dass es kein »Ja« und kein »Nein« mehr gibt. Die Entscheidungsmöglichkeiten gelten als vergleichbar, abwägbar. Der Unterschied besteht nur in verschiedenen Werten von gewissermaßen »gleichgültigen« Optionen.
  • Die programmierten Entscheidungen beziehen sich zuallermeist nicht auf die Gegenwart, sondern auf eine antizipierte Zukunft. Bei FOTRES geht es darum, einen zukünftigen Straftäter präventiv dingfest zu machen. Dominik ist im Gefängnis, weil er – rein rechnerisch – morgen vielleicht etwas Schlimmes tun könnte. Und auch als Patientin soll ich lernen, in einer vorausberechneten Zukunft zu leben: Ich soll meine Gesundheitsrisiken minimieren; ich soll heute so handeln, dass ich morgen – wahrscheinlich – weniger krank werde.
  • Das »Soll«, das den programmierten Entscheidungen zugrunde liegt, ist abstrakt: Sowohl bei FORTRES als auch bei der Entscheidungshilfe der TK gibt einen unausgesprochenen, abstrakten Imperativ: »Gesundheit« und »Sicherheit« – zwei von Uwe Pörksens Plastikwörtern. Diese institutionalisierten Ziele sind von höchstem Wert und zugleich vollkommen inhaltsleer. Solche abstrakten Größen sind Beweggründe, bei denen der Einzelne aus dem Blick gerät. Hannah Arendt unterschied das abstrakte Mitleid mit Menschenklassen und das konkrete MitLeiden mit Einzelnen. Mitleid sagt sie, ist abstrakt, verallgemeinernd, wortreich. Mitleiden dagegen ist wortlos und kann »nicht weiterreichen als bis zu dem konkreten und augenfälligen Leiden des Einzelnen.« Robespierre war stumpf für das Leid der Einzelnen, schreibt sie aus Mitleid mit den »Armen« im Allgemeinen. Auf die gleiche Weise machen abstrakte Werte wie »Sicherheit« und »Gesundheit« blind für das Wohlergehen und Leiden konkreter Menschen.
  • Das »Soll« der programmierten Entscheidungen bezieht sich auf Kategorien von Menschen, auf abstrakte Fälle, aber nicht auf leibhaftige Personen. Dominik sitzt nicht wegen seiner Taten oder seiner Person, sondern wegen seines Profils und seiner Risikowerte in Sicherheitsgewahrsam. Er wird, um es zuzuspitzen, gefangen gehalten wegen seines Datendoppels. Die Patientenbroschüre ruft mich dazu auf, mich selbst als solches Datendoppel, als Risikoprofil zu sehen und darauf meine Entscheidungen zu gründen.
  • Es gibt keine Beziehung mehr zwischen dem, der entscheidet, und demjenigen, über den entschieden wird. Der Psychiater, der Dominiks Daten in FOTRES eingibt und das Programm startet, muss Dominik nie gesehen haben. An wen, gegen wen könnte Dominik sich, wenn er sich wehren will, wenden? Gegen denjenigen, der das Programm entwickelt hat? Gegen diejenigen, die es anwenden? Auch die ArztPatienten-Beziehung ist heute vor allem ein Humanisierungsfaktor, der den geforderten programmierten Entscheidungen den Anschein von Menschlichkeit geben soll. Aber entscheiden braucht er nicht mehr. Der Arzt ist noch ein Vermittler, ein fascilitator. Das Programm hat ihn ersetzt.

Das, was bei den programmierten Entscheidungen rauskommt, ist die Selektion einer Option, die weiterhin »Entscheidung« genannt wird. Hier handelt es sich um Entscheidungen, wie Ivan sagt, die dann »sogenannten Individuen« zugeschrieben werden, »die blut-, fleisch- und leidenschaftslos sind«.

Die programmierten Entscheidungen machen die Dauerkrise möglich. Ständig werden Entscheidungen »gemacht«, ohne dass jemand wirklich entscheidet. Es ist, als würden wir uns im Inneren einer kybernetischen Maschine befinden, in der immer neue Daten und immer neue Optionen erzeugt werden, um uns in »Entscheidungsmacher« zu verwandeln. Je mehr Daten es gibt, desto mehr wird jeder Schritt und jeder Gedanke virtuell verdoppelt und verkommt als Teil des Systems zur entscheidungsbedürftigen Option.

Jean suchte vorhin nach dem katechon, nach dem, was den Fall ins System verzögert. Mit dem System scheint es mir so zu sein wie mit der Hölle in Italo Calvinos »Die unsichtbaren Städte«. Ich will die Stelle vorlesen, auch, weil sie Johannes Beck viel bedeutete, und ich noch lebhaft erinnere, wie er sie uns bei der Vorbereitung des Festes zu Ivans 10. Todestag vorlas. Marco Polo sagt zu Kublai Khan:

»Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das erst noch kommen wird. Wenn es eine gibt, ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden. Es gibt zwei Arten, nicht unter ihr zu leiden. Die erste fällt vielen leicht: die Hölle zu akzeptieren und so sehr Teil von ihr zu werden, daß man sie nicht mehr sieht. Die zweite ist riskant und verlangt ständige Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft: zu suchen und erkennen zu lernen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Dauer und Raum zu geben.«

Ivan fragte sich in einer seiner Vorlesungen: »Ich frage mich, ob es nicht doch möglich ist, im Umgang von leibhaftigen Menschen, die füreinander Gesicht haben und einander riechen und leiden können, auf der Tradition weiter zu bauen, in der das »Sollen« durch die causa finalis ausgerichtet, mit besonnener Klugheit entschlossen, durch geübtes Pathos getragen wird.«

Angesichts unseres schönen Treffens hier in Frankfurt hier möchte ich Ivans Frage beantworten mit einem: »Ja!«