Das Ende des Zeitalters der Instrumentalität

Ivan Illich zu David Cayley:
In dieser Welt könnte ich keine bessere Situation finden, um mit denen zu leben, die ich liebhabe, und das sind eben Menschen, die sich zutiefst der Tatsache bewusst sind, dass sie eine Schwelle überschritten haben. Und weil sie nicht mehr so tief vom Geist der Instrumentalität und der Nützlichkeit durchdrungen sind, können sie verstehen, was ich mit Umsonstigkeit meine. Ich glaube, es ist heute möglich, verstanden zu werden, wenn man von »Umsonstigkeit« spricht. In ihrer schönsten Blüte bedeutet sie Lobpreis, Freude auseinander.1

Aber Illich sagte auch:
Das Zeitalter, in dem Instrumentalität ein Schlüssel war, der zuhehmend alle Türen öffnete, dauerte vom 12.Jahrhundert bis irgendwann in die Lebenszeit meiner Zuhörerschaft. Unter meinen Zuhörern gibt es niemanden, der nicht mit einem Bein im Zeitalter der Instrumentalität steht. Doch sie sind sich der Tatsache kaum bewusst, dass sie in das Zeitalter des Systems eingetreten sind [...] in dem man nicht mehr von einem Instrument sprechen kann.2

Im ersten Zitat feiert Ivan Illich das Ende einer Epoche in welcher alles einen Nutzen hatte und nichts unentgeltlich war. Im zweiten Zitat spielt er auf die Möglichkeit an, dass wir unbewusst in eine neue Ära eingetreten sind, schonungsloser als die vorige: das Zeitalter des Systems. Wir müssen beide Momente trennen: zuerst den Untergang der instrumentalen Kategorien als eine neue Freiheit feiern und erst dann von der Bedrohung einer trostloseren Ordnung sprechen. Das erste Zitat feiert das Ende einer Entwicklungsgeschichte, nämlich der Geschichte der Absicht-tragenden und von der Hand getrennten Instrumente und dann der vorindustriellen und der industriellen Technologie. Das zweite bespricht Illichs Furcht, dass wir uns auf der Schwelle einer neuen Entwicklungsgeschichte befinden, einer Geschichte, in der alle Erfindungen und Entwicklungen Verstärkungen der Integration aller materiellen, institutionellen und intellektuellen Vorrichtungen in ein einziges wohl geschmiertes System sind. 
 
Falls wir denken, dass wir uns auf dieser Schwelle befinden, muss nachdrücklich betont werden, dass die Systemgesellschaft als Zukunft nicht existiert, und, dass sie, als Gegenwart, einer Gegenwartskritik unterworfen werden muss. »Wir wollen nicht im Schatten dieser Zukunft leben!«. Als Beitrag zu dieser Gegenwartskritik schrieb Ivan Illich einige Essays über die postinstrumentale Verwandlung der Begriffe von Grenze, Räumlichkeit und Zeitlichkeit, über die Genusreste in der spätindustriellen Epoche, über den nie unwiderruflichen Verlust der Sinne, über die Überbleibsel des Sinnes für die richtige Proportion und jetzt, über die Segnungen, die wir noch geniessen.
Was ich jetzt vorschlagen möchte, ist eine feine Unterscheidung zwischen Verlustgeschichte und Verlustgeschichten, die erste, eine Geschichte von unwiderruflichen Verlusten, die zweiten, Geschichten der noch nicht unwiderruflichen Verlusten. Ich tue es wieder an Hand eines Zitats von Ivan Illich:

Mein Thema: die Segnungen, die wir noch, trotz ökonomischem Wachstum geniessen, die Wiederentdeckung der Gegenwart, ausser dem Schatten, die dreissig Jahre von Entwicklung auf sie geworfen haben. Und das ist der richtige Moment, um eine Forschung über das nicht-ökonomische Wohl vorzuschlagen, das wir entdecken können wenn die Erwartung weiterer sogenannten Entwicklungen zergeht.3

Rückblick auf Selbstbegrenzung4 
1972 sah Illich die moderne, industrielle Gesellschaft als einen politisch gelähmten Körper. Entscheidungen über Technik und Gesellschaft lagen nicht mehr in der Verfügungssphäre des einfachen Bürgers. Spezializierte und professionnelle Jargons übten ein radikales Monopol über politisches decisionmaking. 
Damals dachte Illich eine radikale Kehre, eine diametrale Umkehrung von Politik und Gesetz sei noch möglich. Vierzig Jahre später ist diese Hoffnung kaum haltbar. Institutionen können nicht als kontraproduktive Werkzeuge reformiert werden: they cannot be retooled, einfach darum, weil sie keine Werkzeuge sind, because they are no longer tools. Politische Entscheidungen über sie können nicht in das Gewebe der gewöhnlichen Sprache wieder-eingebettet werden, weil die Institutionen systemisch geworden sind: sie drücken kaum menschliche Absichten mehr aus und ihre Mittel sind zu Zielen geworden. Aber vielleicht können wir uns ausserhalb von ihnen begegnen? Die vernakuläre Sprache bliebe unser möglicher Treffpunkt und müsse in dieser Hoffnung gehütet werden. 
Ich möchte betonen, dass ich, wie viele Freunde hier, nicht mehr zu der Verbesserung von Institutionen/Systemen beitragen will/kann. Ihre zerstörerische Wirkungen kann ich nur beitragen zu vermindern, indem ich selektiv aufhöre sie zu stützen. Deshalb darf ich nicht viel mehr hoffen als mein eigenes Verschlucktwerden durchs System und das meiner Freunde aufzuhalten. Es gibt noch viel zu preisen und zu loben. Wir leben noch miteinander, und wir können

...die Tatsache preisen, dass wir sind, wer wir sind und wo wir sind, und, dass Reue und Verzeihen zu dem gehören, was wir feiern, und zwar doxologisch (…).5

 

  • 1. Ivan Illich, In den Flüssen nördlich der Zukunft, op. Cit., p. 255.
  • 2. Op. cit., p. 229.
  • 3. Ivan Illich, »Altenatives to Economics: Toward a History of Waste«, ---, In the Mirror of the Past .Lectures and Addresses 1978-1990, London: Marion Boyars Publishers Ltd, 1992, S. 35 [Übersetzung: JR] 
  • 4. Ivan Illich, Selbstbegrenzung: Eine politische Kritik der Technik, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1975 [1973].
  • 5. Ivan Illich, In den Flüssen nördlich der Zukunft, op. cit., S. 255.