I. Was Werzeuge tun: ihre »materielle« Wirkung

Werkzeuge, tools, instrumenta auf Latein, technologies haben selbstverständlich praktische, »materielle« Wirkungen. Ein Werkzeug ist ein Zeug, um auf Umwelt und Menschen zu wirken, es ist was man von ihm erwartet. Seit der Umdefinierung des klassischen organon in instrumentum im XII. Jahrhundert, wurde das Werkzeug als eine neue Form von Kausalität gesehen: causa instrumentalis. Diese neue Form von Ursache – ursprünglich ein theologischer Begriff – stand zunehmend im Dienste des menschlichen Willens. Gewollte Wirkungen erschienen einst als die Verwirklichung von persönlichen Absichten. 
Bevor wir uns fragen: »wie persönlich sind instrumentale Absichten heute«? müssen wir anerkennen, dass Werkzeuge auch ungewollte Wirkungen haben. Werkzeuge verändern nämlich die Umwelt auf zwei Weisen, eine gewollte und eine ungewollte:

1. Einerseits verändern Werkzeuge die Umwelt1 um die Härte des Lebens zu vermindern, um die menschliche Existenz leichter zu machen, aber auch um Macht über den Nachbarn zu erlangen. Das sind gewollte Wirkungen der Werkzeuge. 

2. Andererseits haben aber Werkzeuge auch ungewollte Wirkungen. Sie können zum Beispiel die allgemeine Umgebung, in der die instrumentale Verwirklichung von Absichten einen Sinn hat, so verändern, dass sie diesen Sinn ganz verliert. Das Auto, zum Beispiel, wird anfänglich als ein Mittel betrachtet, um schnell zu seinem Ziel anzukommen. Die Umgebung der Autofahrer ist das allgemeine Strassennetz. Durch seine schiere Beanspruchung einer Stelle im Verkehrsraum, übt jeder Autofahrer einen geringen Einfluss auf die Umgebung aller, in diesem Fall das Strassennetz und seinen Zustand aus. Wenn die Zahl der Autofahrer wächst, übt die Zusammenfassung dieser geringen individuellen Einflüsse eine bremsende Wirkung auf den Verkehrsfluss aus, bis das Auto seinen Sinn als »Zeit-sparer« total verliert.
1976 erschien in Paris ein Buch von Jean-Pierre Dupuy und Jean Robert2, in dem das Verhältnis zwischen individuellen Autofahrern, dem Strassennetz und seinem Zustand und der in diesem Zustand möglichen Geschwindigkeit als Schema der allgemeinen Kontraproduktivität industrieller Institutionen vorgestellt wurde. Heinz von Förster, der nach dem 2.Weltkrieg als Sekretär der »Macy Conferences« den - von Norbert Wiener vorgeschlagenen - Begriff ‚Kybernetik’ offiziell eingeführt hatte, nahm enthusiastisch an unseren Gesprächen teil, während Ivan Illich mit einem ironischen Lächeln zuhörte. Geniessen Sie mit einem toleranten Lächeln unsere systemische Erläuterung der Kontraproduktivität!  

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TDO. Figure 4, p. 69 (Siehe auch S. 112).

E steht für »Environnement«, O für »Objectifs« und R für »Résultats«.
A1, A2, Ak stellen individuelle Werkzeugbenutzer dar und T1, T2, Tk ihre Taten. Für jede Tat ist der rechte Pfeil ein Schritt in die Richtung ihres Ziels, d.h. der Verwirklichung der ursprünglichen Absicht. Der linke Pfeil stellt die, für jeden Einzelnen infinitesimale Wirkung seiner Taten auf die Umwelt dar. Die Zusammensetzung dieser geringen individuellen Wirkungen verändert die Umwelt auf einer Weise, die die Verwirklichung der ursprünglichen Absichten sinnlos machen kann.
Der Pfeil und der infinitesimale Gegenpfeil unseres Digramms könnten die gewollten und die ungewollten Wirkungen der Werkzeuge kennzeichnen: ihre Produktivität und ihren – »jenseits von gewissen Schwellen wahrnehmbaren«- unvermeidlichen kontraproduktiven Schatten. Die Kontraprodiktivität wohnt jeder Prodiktivität inne. 
Ivan Illich hat manchmal gesagt, unser Buch über die Kontraproduktivität sei nicht auf Französisch, sondern auf »Japanisch« geschrieben worden. Er selbst hat den Begriff sehr deutlich und in durchsichtiger Sprache erläutert3

I. Was Werzeuge »sagen«: ihre symbolische Wirkung

Ab den späten 70er Jahren, hat Illich angefangen die Begriffe der Industriegesellschaft auf eine neue Weise zu befragen. Er war sich damals bewusst, dass er dieses begriffliche Instrumentarium neu und radikal in Frage stellte, in einem Moment in dem die Epoche, in der eine Industriegesellschaft existieren konnte, zu Ende ging. Er studierte das Ende dieser Epoche im Lichte seiner Anfänge im XII. Jahrhundert4
Derselbe Werkzeug-Begriff verlor langsam seinen Boden in der sinnlichen Erfahrung. Zuerst konnten die Dienst-leistenden Institutionen nicht mehr als Werkzeuge betrachtet werden5. Dann verloren die übrigen Werkzeuge allmählich das Hauptmerkmal ihrer »Werkzeug-Qualitat« oder Instrumentalität: die Distalität6, das heisst ihre Distanz zu ihrem Benutzer, den sie jetzt so einbezogen, dass er von etwas »geschluckt« wurde, das Illich nicht mehr ein Werkzeug, sondern ein System nannte. 
Was sagen also Institutionen, die nicht mehr als Werkzeuge beschrieben werden können? Schulen sagen, dass homo, der Mensch, homo educandus ist, dass er nichts unabhängig lernen kann, dass er »from sperm to worm« von Erziehungs-Diensten aghängt. Der motorisierte Verkehr sagt, dass homo homo transportandus ist, dass er nirgendwohin unabhängig auf seinen Beinen gehen kann. Das Gesundheitswesen sagt, dass der Mensch für sein ganzes Leben ein Patient ist, dass er unfähig ist, ohne Arzt und Spital zu heilen. 

Wie persönlich sind instrumentale Absichten, heute? Falls wir schon ins Systemzeitalter gefallen sind, gibt es keine instrumentale Absichten – und keine Absichten überhaupt - mehr. Der Ausdruck »systemische Absichten« hat keinen Sinn. Ich werde später vorschlagen, dass wir noch in einem »mixed regime«, zwischen Instrumentalität und System sind. 
 

  • 1. Es ist mindestens so seit dem Anfang des XIII Jahrhunderts, siehe Roger Bacon. Für Hugo von Sankt-Viktor, in den 30er Jahren des XII. Jahrhunderts, waren Werkzeuge keine Transformationsmittel der Welt, sondern Heilmittel für die Schwäche des mensclichen Körpers.
  • 2. La trahison de l’opulence, Paris: Seuil, 1976, siehe S. 69 und 112.
  • 3. Ivan Illich, Die sogenanntge Energiekrise und die Lähmung der Gesellschaft: das sozialkritische Quantum der Energie, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag:, 1974. Ivan Illich, Energie und Gerechtigkeit, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1974.
  • 4. Ähnlicherweise studierte Illich das Ende der Lesensform, die George Steiner »bookish reading« nannte, in XX. Jahrhundert im Lichte seiner Anfänge im XII. Jahrhundert.
  • 5. Ivan Illich, In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und Gesellschaft mit David Cayley, München: Verlag C.h. Beck, 2006, S. 104.
  • 6. Ivan Illich, In den Flüssen..., op. cit., S. 98-101, 226, 227, 251, 252.  Über das Ende der Zeit der Werzeuge hat Illich einen Essay geschrieben, der nicht in der Bibliographischen Sammlung (Bremen, 2005) erwähnt wird: »Goodbye to Tools«.